Wir trauern um Paul Gratzik-Nachruf von Annekatrin Hendel
Paul Gratzik
* 30. November 1935 in Lindenhof, Kreis Lötzen, Ostpreußen;
† 18. Juni 2018 in Eberswalde
Nachruf
Der deutsche Dichter Paul Gratzik ist tot.
Paul Gratzik ist heute am 18.Juni 2018 in einem Krankenhaus in Eberswalde gestorben. Im Kopf klar, wie immer, aber der Mund schon ein paar Wochen stumm, nach einem Schlaganfall.
Als drittes Kind einer Landarbeiterfamilie Ostpreußens in das Jahr 1935 geboren, starb Gratziks Vater schon 1941 an der Ostfront. Die Mutter zog ihre Kinder allein groß. Es folgten Vertreibung und Flucht 1945 aus Stuhm in Ostpreußen. Auf dem Treck Richtung Mecklenburg erlebt der Zwölfjährige das Kriegsende. Die Familie zieht umher. In Selmsdorf besucht der kleine Paul die Volksschule. Nach dem Krieg beseitigt er mit hoch gekrempelten Ärmeln, genau wie Tausende andere in allen Besatzungszonen, die Trümmer Deutschlands.
Die „Bruderhilfe“ der Russen in der sowjetischen Besatzungszone, beeindrucken den jungen Paul Gratzik tief. Bis zuletzt zeigen sich starke Einflüsse in seiner auffälligen Art sich zu kleiden, Kombinationen aus Fellen, Stiefeln auch zur warmen Jahreszeit, im Winter immer Tschapka. Von 1952-54 lernt Paul Gratzik in Schönberg den Beruf des Tischlers. Sein leidenschaftlicher Umgang mit Holz hat mich bis zuletzt beeindruckt. Sei es, wenn er etwas baute (riesige Betten,Türen und Zäune für das Gehöft auf dem er lebte) oder wenn er einfach nur Holz hackte.
1954 wird Paul Gratzik an der Arbeiter- und Bauernfakultät (ABF) immatrikuliert. Hier trifft er auf Tamara Bunke, eine jugendliche Abenteurerin, die später die „klassenbewußte Kämpferin für den Sozialismus in Lateinamerika“, die einzige Frau in Che Guevaras Guerilla-Gruppe in Bolivien war und die eine berechnende Geheimagentin gewesen sein soll, wie Paul mir erklärte. Die beste Schützin, ihrer GST- Gruppe sei sie gewesen. Nach Tamara Bunkes Weggang in den Untergrund verlässt auch er vorzeitig die ABF ohne Abschluss. 1955 geht er illegal in den Westen und arbeitet in Bochum als Tischler. 1956 zieht es ihn wieder nach Berlin, dann nach Schlabendorf (Sachsen) ins Braunkohletagebau-Gebiet und schließlich nach Weimar. Hier trifft er seine erste Frau: „das Proletariat in seiner schönsten Erscheinungsform“. Das Paar bekommt 1959 eine Tochter, lässt sich aber schon bald wieder scheiden.
1961 Bau der Mauer- ein vollständiger Umbruch, sein Menschheitstraum beginnt: „Wir machen das jetzt.“- In dieser Phase lässt sich Paul Gratzik von der Stasi anwerben. Seine Verpflichtungserklärung unterschreibt er mit dem Decknamen „Peter“ auf „freiwilliger Basis“ im Mai 1962. Nach seiner Lehrerausbildung 1962-66 und kurzer Tätigkeit als Erzieher wird „Peter“ 1967 an die Kreisdienststelle Dippoldiswalde an seinen Führungsoffizier Hauptmann Wenzel übergeben, der für Paul Gratzik durchgängig und bis zum Ende seiner konspirativen Mitarbeit zuständig sein wird.
Von 1966 bis 1971 ist Paul Gratzik als Erzieher in Jugendwerkhöfen tätig. Die Arbeit auf dem Jugendwerkhof mit dem „destruktiven Teil der Gesellschaft“, die Widersprüche aus der Arbeit mit kriminellen inhaftierten Jugendlichen, inspirieren ihn. Der „Nebenjob“ bei der Stasi, das Spiel mit Fiktion und Realität, besitzen ebenfalls eine große Faszination. Er schreibt nun nicht mehr nur Stasiberichte. 1966 erscheint sein erstes literarisches Werk, das Drama „Unruhige Tage“, das in Leipzig uraufgeführt wird. Ein erster Erfolg. Paul Gratzik will mehr davon. Im September 1967 beginnt er ein Studium am Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ in Leipzig. Es folgt ein Jahr des Umbruchs. Der Prager Frühling hinterlässt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Spuren in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Paul Gratzik wird im selben Jahr noch „aus politisch-ideologischen Gründen“ vom Studium am Literaturinstitut exmatrikuliert.
Aber dennoch ist der junge Dichter in den erlesensten Kreisen der Literaturbohème um Anna Seghers zu Gast. Im privaten Wohnzimmer, Anne Seghers Ruhepunkt nach den Turbulenzen des Exils und des Nachkriegs, empfängt die Dichterin viele Gäste: Lektoren, Kollegen und Freunde wie Amado, Ehrenburg, Laxness, Steffie Spira und mit ihr eben den jungen Paul Gratzik. „Hier schlürfte ich die erste Auster meines Lebens“.
Mit dem Erfolg der nächsten Stücke, „Malwa“, „Warten auf Maria“ und „Umwege“ wird Paul Gratzik freischaffender Schriftsteller und 1971 in den Schriftstellerverband der DDR aufgenommen. Die Berliner Theater haben es ihm besonders angetan: das Deutsche Theater und die Volksbühne. Er hat unter den Autoren einen Sonderstatus, weil er immer wieder freiwillig als Prolet in die Produktion zurückkehrt. Er wird gefeiert als DER Arbeiterdichter. In einer eigenwilligen, wortgewaltigen Sprache beschreibt er lebendig den Alltag von Industriearbeitern in der Provinz. Auch vor DDR-Tabuthemen schreckt er nicht zurück, was ihm Schwierigkeiten mit der staatlichen Zensur einbringt. Das macht ihn als IM unverdächtig. Niemand ahnt, dass gemeinsames Feiern, Diskutieren, Lachen, Schimpfen und Hoffen über viele Jahre einen doppelten Boden hat.
Es folgt die zweite Ehe und 1970 eine weitere Tochter. Immer schwerer wird es, die neu gewonnenen Freiheiten (sogar im Westen ist er ein gefragter Arbeiterdichter), die neuen Freunde aus der Literaturszene (u.a. Heiner Müller) und die schwere körperliche Arbeit im Dresdner Transformatorenwerk, die IM-Tätigkeit, das immer enger werdende Verhältnis zu seinem Führungsoffizier und schließlich das kleine private Glück als Familienvater in einer Neubausiedlung zu vereinbaren. 1975 erscheint sein Roman „Transportpaule“. 1977 verlässt Paul Gratzik seine zweite Frau, geht nach Berlin und wird Vertragsautor beim Berliner Ensemble. 1981 dekonspiriert er sich selbst und verlässt den Staatsicherheitsdienst: „Der tiefste Grund auszusteigen war die Sache, dass der Sozialismus stark beschädigt worden ist. So was Unproduktives, das hat keinen Nutzen gebracht…“ Er informiert die Freunde, die er vorher verriet und wird nun selbst zum Beobachtungsobjekt des Staatssicherheitsdienstes, genannt „Objekt Kutte“. Dass er nun von den meisten Intellektuellen ausgestoßen, zur Unperson erklärt und in die Provinz verbannt wird, nimmt er in Kauf. Nach 1981 hat er kaum noch geschrieben, ein paar Stücke, Erzählungen, aber wenig veröffentlicht.
So habe ich ihn 1988 kennen gelernt: Eine gewaltige Erscheinung damals. Das erste, was ich von ihm gehört habe, war: „Das Schreiben habe ich bei der Stasi gelernt“.
Paul Gratzik hat mich viele Jahre beschäftigt. Er hat Geschichte wohl nie harmonisch erfahren. Die Herstellung von Harmonie hat ihn nie interessiert. Die Energien seines Lebens und seiner Kunst hat er regelrecht aus der Entzweiung der Dinge geschöpft. Der notorische Katastrophenliebhaber hielt mit bemerkenswerter Beharrlichkeit an der Utopie einer sozialistischen Gesellschaft fest, auch wenn er seine Zuversicht stets mit Zweifeln artikulierte. Ich habe ihn oft besucht. Jede Auseinandersetzung war eine große intellektuelle und emotionale Herausforderung.
In meiner Theaterzeit in den Neunziger Jahren habe ich dann an mehreren Inszenierungen seiner Stücke mit gewirkt, seine Romane verschlungen, die ich vorher nicht kannte. Und ich war mit meiner Begeisterung nicht allein: Der Regisseur Martin Otting verfilmte 1996 Paul Gratziks Erzählung „Tripolis“ als Spielfilm unter dem Titel „Landleben“. Der Autor Armin Petras widmete Paul Gratzik ein Stück. Das Theater 89 spielte seine Dramatisierungen für Theater nach Texten von Johannes Bobrowski und Grimmelshausen.
Was auch immer mir an Texten von Paul Gratzik begegnete: sie hatten Wucht und funkten uns einen Lebensrhythmus, einen antik anmutenden Sprachduktus und Botschaften entgegen, die in unserer Welt schon lange nicht mehr vorkommen.
Als ich vom Theater zum Film übergelaufen war, habe ich einen Dokumentarfilm über Paul Gratzik gemacht. Das war 2011. Danach sollte sein bislang unveröffentlichter Roman RITAS ORT erscheinen. Da gab es große Hoffnung gelesen, wieder gesehen zu werden und zugleich Antrieb mit dem Schreiben weiter zu machen. Aber ein falscher Freund vereitele die Veröffentlichung per einstweiliger Verfügung, obwohl schon eine ganze Auflage gedruckt war. Ein großer Schock. Aber er schrieb dann trotzdem wieder: „Johannistrieb- eine Telenovelle“ zum Beispiel, erschienen 2015. Er geht, 80 Jahre alt, in diesem erotischen Text, in die volle Leiblichkeit, in seine und die jener Frau, die er nach Jahren wiedergetroffen hat.
Bis zuletzt hat er geschrieben. Einen großen Wurf wollte er noch machen. Bei meinem letzten Besuch im Krankenhaus war es nicht mehr zu besprechen, was sich Paul Gratzik selbst für den Verbleib seines schriftstellerischen Werkes vorgestellt hat. Sollten die Texte nicht vollständig der Wissenschaft und der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung stehen?
Paul, Du bist der streitbarste, unbelehrbarste, gnatzigste und trotzigste Mensch, den ich je traf. Aber Du hast auch immer die mutigsten Dinge unternommen und die tiefsten Gefühle gefühlt. Und das hast Du uns hinterlassen. Danke!
Annekatrin Hendel
am 18.Juni 2018