Synopsis

 

VATERLANDSVERRÄTER
Ein Dokumentarfilm von Annekatrin Hendel

schnee

Der größte Feind im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant. Diesen Spruch seiner Mutter hatte der Schriftsteller Paul Gratzik, aus einfachen Verhältnissen in den 1970ern zu einem gefeierten Vertreter der DDR-Literaturszene emporgestiegen, immer im Ohr. Trotzdem war er 20 Jahre lang Inoffizieller Mitarbeiter des DDR-Staatssicherheitsdienstes, schrieb Berichte über Freunde und Förderer wie Heiner Müller, Steffie Spira und Ernstgeorg Hering. Anfang der 1980er stieg Gratzik aus, enttarnte sich selbst und wurde seinerseits zum Objekt der Stasi-Beobachtung. VATERLANDSVERRÄTER ist das filmische Porträt eines vom Kommunismus überzeugten Mannes „mit lautem Wesen“, dessen Leben ein Zickzack zwischen den Extremen war. Eine Geschichte, wie sie so, mehr als 20 Jahre nach dem Ende der DDR, noch nicht erzählt worden ist.

 

So schwer, wie man zu ihm hinkommt, kommt man auch an ihn heran. In einem abgelegenen Teil der Uckermark kämpft sich die Regisseurin Annekatrin Hendel durch den Schnee. Es ist der Drehstart für einen Film über den 75 Jahre alten Schriftsteller Paul Gratzik, Stasi-Zuträger, Aussteiger, Dissident. Das erste, was Gratzik trotzig von sich gibt ist: Über die Stasi rede er nicht. Das könne sie, Annekatrin Hendel, sich aus dem Kopf schlagen. Punkt. Aber es gibt diesen Film doch. Er ist einerseits das Psychogramm eines widersprüchlichen Exemplars “Mann” in seinen Extremen: Satyr, Verführer, Radikalist und Eremit. Andererseits liegt mit VATERLANDSVERRÄTER eine Geschichte über die DDR, ihre Kritiker und die Stasi vor, wie sie, 20 Jahre nach ihrem Ende, noch nicht erzählt worden ist. Gratzik hat seine Arbeit als IM wegen Vaterlandsverrat, dem der Funktionäre an den Menschen in der DDR, beendet und sich geoutet. Die Konsequenzen, nicht mehr veröffentlichen zu können und selbst bespitzelt zu werden, nimmt er damit in Kauf.

Annekatrin Hendel ist es gelungen, ein Leben nachzuzeichnen, an dessen Ende ein Mann steht, den man verfluchen und gern haben muss, gleichzeitig. Für den Film zieht sie mit ihm durch wichtige Stationen seines Lebens und erlebt die Härten seines Alltags. Zu Wort kommen eine verflossene Liebe, seine erwachsenen Kinder, Freunde, Kollegen, sein Führungs-Offizier und ein IM, der später auf ihn angesetzt wird.

Und natürlich Gratzik selbst, seine Erinnerungen, seine Texte und die von ihm verfassten Stasiberichte. Dass er, der sich gerne um Kopf und Kragen redet, dabei letztlich keine Erwartungshaltung bedienen muss, ist der sensiblen Handschrift dieser Filmemacherin zu verdanken. Und ihrer hartnäckigen Neugier: dass er dann zwar doch mit ihr redet, sich aber in seiner ihm immanenten Zerrissenheit und Sturheit treu bleiben darf. Annekatrin Hendel verzichtet von vornherein auf die „Moral von der Geschicht`“ und kann resümierend damit leben, dass Täter und Opfer in einer Person sich vor allem zu „Mensch“ neutralisiert.

Juliane Voigt
Journalist

It is about as difficult to reach him as to get to him. Director Annekatrin Hendel trudges through a lot of snow in the middle of nowhere in the Uckermark (a region in north-eastern Germany). It is the first day of shooting for a film on 75-year-old writer Paul Gratzik, former Stasi informant, turned apostate, turned dissident. The first thing Gratzik defiantly announces is that there will be no discussion on the Stasi… She will just have to get that out of her head. Full stop. But now we have the film. On one hand it is a psychological profile of one of an extraordinarily paradoxical figure, a “man of extremes”: satyr, seducer, radical and hermit. On the other hand it tells a story about the GDR, its critics and the Stasi of the kind that has never been told before in all the 20 years since the end of East Germany.

 

When Gratzik terminated his activities as a confidential informant, because he began to feel the functionaries were betraying the people of the GDR, he came out of the closet in a radical manner. He was ready to put up with the consequences of no longer being able to publish anything and of even being under surveillance himself.

Annekatrin Hendel has managed to portray a life whose last chapter shows a man whom one can curse and be fond of at the same time. She accompanies him through important stations in his life and experiences the hardships of his daily existence. Appearing in the film are an old flame, his grown children, friends, colleagues, his senior controller and the informant who was later assigned to keep tabs on him.

And then we have Gratzik himself… his memories, his texts and the Stasi reports he drew up himself. The fact that a man, who clearly enjoys reckless talk, is not under pressure to serve any expectations is thanks to the sensitive approach of the filmmaker. And thanks to her unwavering curiosity, he ends up opening up to her at all, while being allowed to remain faithful to himself, his inner conflicts and his obstinacy. From the outset Annekatrin Hendel has refrained from seeking a “moral to the story”, and she can ultimately live with perpetrator and victim being neutralised and even „humanised“ in one person.

Juliane Voigt
Journalist

 

 

Director’s Statement

Regiekommentar

„Zur Wahrheit braucht man die meiste Phantasie“
– Heiner Müller –

Weil das “Vaterland”, in dessen Räume meine Erinnerungen spielen, unter ging, sind diese seltsam ortlos geworden und hängen somit an Menschen und Schicksalen. Mit diesem Film stelle ich Fragen einen Vertreter unserer Vätergeneration, den Schriftsteller Paul Gratzik. Dieser Film ist kein Enthüllungs- oder Rechtfertigungsfilm, sondern einer über die Zerrissen-heit eines deutschen Literaten, der mit seinen Werken durchaus prägend wirkte. Paul Gratzik ist in Widersprüchen zu Hause. Jede Auseinandersetzung mit Paul Gratzik ist gleichzeitig eine große intellektuelle und emotionale Herausforderung. Er hat Geschichte wohl nie harmonisch erfahren. Die Herstellung von Harmonie hat ihn aber auch nie interessiert. Im Gegenteil, die Energien seines Lebens und seiner Kunst hat Paul Gratzik aus der Entzweiung der Dinge geschöpft. Das ist spannend, denn der notorische Katastrophenliebhaber und Untergangsprophet hält mit bemerkenswerter Beharrlichkeit bis heute an der Utopie einer sozialistischen Gesellschaft fest, auch wenn er seine Zuversicht stets mit Zweifeln artikuliert. Er funkt uns einen Lebensrhythmus, einen antik anmutenden Sprachduktus und Botschaften entgegen, die in unserer Welt nicht mehr vorkommen. Ich konfrontiere die Zuschauer mit den alten und neuen Ideen meines ungewöhn-lichen Protagonisten, so verwickelt, spannend, leidenschaftlich und manipulativ, wie ich sie seit über zwanzig Jahren von ihm kenne. Und der Film erzählt von der privaten Person Paul Gratzik, die nicht der „unauffällige“ Stasizuträger war, wie wir ihn aus Geschichtsbüchern und Filmen kennen, sondern charismatisch, pompös, schroff und charmant. Zum Glück ist Paul Gratzik kein weiser Herr, der über sein Leben plaudert, sondern er ist noch immer streitbar und trotzig und irgendwie auch, obwohl alles dreimal so groß und soviel, wie jeder andere Mensch.

Annekatrin Hendel

„To know the truth you need a lot of imagination“
– Heiner Müller –

Because that “State” that houses my memories bit the dust, my memories have become oddly placeless and depend more on individuals and their fates. With this film I pose questions to a member of my father’s generation, the writer Paul Gratzik. The film does not seek to expose or justify anything; it focuses on the inner turmoil of a German literary figure, whose works have had impact on many. Paul Gratzik has always felt at home in contradictions. And any debate with Paul Gratzik represents both a significant intellectual and emotional challenge. He has apparently never experienced harmony in history. But the idea of inducing any harmony has never interested him either. On the contrary, he has always generated energy for his life and his art out of the rupture of things… An intriguing thing indeed, because this notorious catastrophe enthusiast and doomsayer adheres to the utopia of a socialist society still to this day with a remarkable tenacity, even when his convictions are strewn with doubts. He conveys a rhythm of life, an almost archaic linguistic style and subtexts that are no longer to be found in our world today. My aim is to confront the spectators with the old and new ideas of my unusual protagonist – in the very convoluted, intriguing, passionate and manipulating manner they have struck me for the past twenty years. The film also offers a glimpse of the private person Paul Gratzik, who, far from the typical „nondescript“ Stasi agent we know from history books and films, is someone who is charismatic, pompous, brusque and charming. And fortunately Paul Gratzik is not a wise old gentleman who sums up his life story here; instead he is polemic and defiant… and somehow – despite everything having a greater dimension – ultimately like any other human being.

Annekatrin Hendel